Noch zu stoppen: Der Siegeszug des Deppenzepters

Ein Selfie am ausgestreckten Arm verformt die Gesichtszüge des Porträtierten äußerst unvorteilhaft. Aus ästhetischen Gründen wäre es naheliegend, auf Selfies komplett zu verzichten. Leider ist das keine Option. Nun hat die Industrie den Selfie-Stick entwickelt und der selbstverliebte Zirkus kommt erst richtig in Fahrt.

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Von
  • Sascha Steinhoff
Inhaltsverzeichnis

Ein Selfie am ausgestreckten Arm verformt die Gesichtszüge des Porträtierten äußerst unvorteilhaft. Aus ästhetischen Gründen wäre es naheliegend, auf Selfies komplett zu verzichten. Leider ist das keine Option. Nun hat die Industrie den Selfie-Stick entwickelt und der selbstverliebte Zirkus kommt erst richtig in Fahrt.

Das vergangene Jahr 2014 stand ganz im Zeichen des Selfies, nicht einmal die Fußball-WM blieb von dem obskuren Hype verschont. Wer im Jahr 2015 auf eine Normalisierung der Verhältnisse gehofft hatte, wurde bitter enttäuscht. Es hat sich zwar inzwischen herumgesprochen, dass die klassische Selfie-Perspektive am ausgestreckten Arm eher selten für schöne Porträts sorgt. Bedauerlicherweise hat man dafür eine technische Lösung gefunden. Mit der künstlichen Armverlängerung durch einen Selfie-Stick kann man die Aufnahmedistanz bequem verlängern. Seit die billigen Nachbauten des originalen QuikPod den Markt überschwemmen, sind diese überdimensionierten Smartphone-Halter omnipräsent.

Ich bin, um das gleich vorweg einmal klarzustellen, kein Fan von Selfies, aber Selfie-Sticks sind schon spannend. Sie machen das moderne und oft eintönig sichere Leben irgendwie aufregender. Insbesondere für diejenigen, die durch eine unglückliche Fügung des Schicksals neben dem stolzen Selfie-Stick-Besitzer stehen.

Ein Kommentar von Sascha Steinhoff

Sascha Steinhoff ist Redakteur bei c't Digitale Fotografie und schreibt seit 2008 regelmäßig über techniklastige Fotothemen. Privat ist er seit analogen Zeiten bekennender Nikon-Fanboy, beruflich ist er da flexibler. Als Softwarespezialist kümmert er sich insbesondere um die Themen Raw-Konvertierung, Bildbearbeitung und Bildarchivierung.

Beispiele gefällig? Bei der Tour-de-France sind aufdringliche Selbstdarsteller unter den Fans seit jeher ein Problem und nicht immer ist jemand zur Stelle, der den Selbstdarsteller elegant aus dem Verkehr ziehen kann. Früher mussten sich die Fahrer an steilen Etappen wie nach Alpe d'Huez durch eine Wand von mit den Armen gestikulierenden Wahnsinnigen kämpfen. Das war schlimm genug. Inzwischen sind nicht wenige dieser Selbstdarstellungs-Spezialisten mit einem Selfie-Stick bewaffnet. Der deutsche Fahrer John Degenkolb, immerhin einer der Besten seiner Zunft, ist in diesem Jahr schon am Selfie-Stick eines Fans hängen geblieben. Einen Sturz konnte Degenkolb glücklicherweise verhindern.

Probleme werden auch von Museen und Fahrgeschäften auf Volksfesten und in Freizeitparks berichtet. Es dürfte kaum eine Sehenswürdigkeit geben, vor der nicht Heerscharen von Touristen mit ihren Stöcken herumfuchteln. Im Restaurant, in der Straßenbahn und selbstverständlich auch beim Ego-Selfie vor einem frischen Autounfall: Selfie-Sticks sind eine fotografische Allzweckwaffe im wahrsten Sinne des Wortes. Nicht einmal auf Entwicklerkonferenzen ist man sicher.

Es gibt inzwischen eine Reihe von Verboten und noch viel mehr diplomatische Hinweise in welchen Situationen es für die Umgebung eher störend ist, wenn einer mit einem langen Metallstab hantiert. Genutzt hat all das wenig. Der Siegeszug der Selfie-Sticks scheint nicht aufzuhalten zu sein. Viele ihrer Besitzer piesacken ihre Umgebung nach wie vor mit großem Vergnügen oder zumindest einer bemerkenswerten Ignoranz. Kurz gesagt: Es reicht langsam. Nur, was kann man gegen eine Horde wildgewordener Selbstdarsteller tun?

Den ersten Schritt hat dazu hat einer unserer Leser im Forum getan. Er hatte die Selfie-Sticks recht treffend als Deppenzepter bezeichnet. Das ist ein wirklich schönes Wort, aber selbst Google findet dazu gerade einmal acht Treffer. Ich möchte Sie darum bitten, das gemeinsam mit mir zu ändern. Verwenden Sie das Wort Deppenzepter möglichst häufig, es muss bekannter werden. Posten Sie es in Foren und benutzen sie es ruhig, wenn im RL wieder so ein fotografierender Lümmel seine chromglänzende Extension ausfährt.

Das ist vermutlich der einzige Weg, wie man den Selfie-Stick-Gebrauch jetzt noch eindämmen kann. Mit der gleichen Masche hatten vor einiger Zeit die Komiker von Genial daneben großen Erfolg. Erinnern Sie sich an die seltsamen Tribals, die sich damals viele junge Menschen über den Steiß tätowieren ließen? Seitdem die Sendung hierfür den Begriff Arschgeweih eingeführt hatte, sind diese Tätowierungen recht zügig aus der Mode gekommen. Das sollte mit den Selfie-Sticks doch auch funktionieren! Bitte unterstützen Sie mich: Das Minimalziel unserer Kampagne ist ein eigener Wikipedia-Eintrag für das Deppenzepter.

P.S. Wenn Sie's doch nicht lassen können, dann wenigstens hier kaufen.

[Update 14.08.2015:]

Der Kommentar zum Deppenzepter hat in den letzten zwei Tagen einige Wellen geschlagen. Hier für Freunde und Feinde des Begriffs eine kurze Übersicht, was inzwischen passiert ist.

1. Am gleichen Tag als der Kommentar online ging, wurden die Domäne deppenzepter.de und deppenzepter.com registriert. Unter beiden URLs sind inzwischen Inhalte hinterlegt.

2. Zu Beginn der Recherche fand Google nur 8 Suchergebnisse für den Begriff Deppenzepter. Nur zwei Tage später ist die Zahl der Suchergebnisse schon auf 2600 geklettert und die Tendenz ist schnell steigend.

3. In der Wikipedia wurde zeitnah der Begriff Deppenzepter angelegt und auf Selfie-Stange weitergeleitet. Inzwischen ist das Deppenzepter zur Löschung vorgeschlagen. Die Diskussion über das Für und Wider des Deppenzepters in der Wikipedia wird seitdem erbittert geführt. Von hier ein lieber Gruß an die Wikipedia-Admins: Das Rad der Zeit läßt sich nicht zurückdrehen. Egal wie ihr den Begriff findet, nun ist er da!

4. Die Österreicher wollen das deutsche Deppenzepter ebenfalls nicht übernehmen, jedenfalls nicht im Original. Sie plädieren stattdessen für das leicht modifizierte Deppenszepter. Kritische Rückmeldungen aus Bayern gab es bisher nicht, sie werden aber in Kürze erwartet.

5. Auf der Facebook-Seite zu c't Digitale Fotografie ist die Meldung zum Deppenzepter der mit Abstand populärste Post in dieser Woche (gemessen an Lesern).

6. Auf unserem Twitter-Account hat das Deppenzepter noch nicht so richtig eingeschlagen. Der Hashtag #Deppenzepter ist trotzdem schon fest etabliert.

7. In den Google-Groups wurde das Deppenzepter als Word des Jahres 2015 nominiert.

So ganz neu ist das Phänomen der Selfie-Stick-Kritik nicht. In diesem schönen Comic hat Rob DenBleyker seinen Unmut über die trendigen Smartphone-Halter schon im Jahr 2014 mit spitzer Feder weggezeichnet. (sts)